11 |
Ausgabe 05 | 2018 | 2. Jg.
Reflecting
wahrscheinlich deshalb so gern Tole-
ranz, weil sich darin unsere Überle-
genheit manifestiert, auch wenn das
wahrscheinlich niemand gern zugeben
würde.
Wahrscheinlich regt sich jetzt bei
Ihnen ein ungutes Gefühl, eine Span-
nung, resultierend aus einem Missbe-
hagen gegenüber dem Gehörten. Das
wäre das beste Beispiel für den zwei-
ten ausgewählten Begriff, an dem der
vor-reflexive Gebrauch dergleichen
demonstriert werden soll: dem des
Vorurteils.
Offensichtlich widerspricht mein Vor-
urteil von Toleranz und seinen Mecha-
nismen Ihrem Vorurteil von Toleranz
und seinen Mechanismen. Wir hät-
ten also genau den Punkt erreicht,
in dem Hans Georg Gadamer die
Quelle des Denkens lokalisiert, und
zwar dem Aufeinandertreffen zweier
sich widersprechender Vorurteile. Für
Gadamer sind Vorurteile nichts Nega-
tives, sondern etwas Selbstverständ-
liches. Ohne ein Set an Vorurteilen
wäre kein Leben in einer Gesellschaft
möglich. Vorurteile geben uns Orien-
tierung und entlasten uns von stän-
diger Abwägungsarbeit, die unser
Leben völlig verunmöglichen würde.
Aber natürlich, Vorurteile bleiben nur
solange stabil, bis sie herausgefordert
werden: durch Dysfunktionalität oder
durch andere, widersprechende Vor-
urteile. Unsere Vorurteile sind also
in Bewegung, sie sollen in Bewegung
gebracht werden. Sich-Bilden ist die
ständige Arbeit am eigenen Vorurteil.
Jedoch, und das ist jetzt deutlich, Vor-
urteile sollen und können nicht abge-
schafft werden: Hinter Vorurteilen
liegt kein sozialromantisches Utopia,
sondern nichts. Selbstverständlich ist,
dass es Vorurteile gibt, die Schaden
anrichten und unvereinbar sind mit
unserer demokratischen Grundord-
nung. Jedoch: Vorurteile verbieten ist
juristisch unmöglich, nur Handlungen,
die aus solchen Vorurteilen motiviert
sind, sind strafbar und machen solche
Vorurteile ja überhaupt erst sichtbar.
Bevor solche Vorurteile Schaden
anrichten können, sollten sie also ver-
ändert werden. Und das geschieht,
indem sie von anderen, widerspre-
chenden Vorurteilen herausgefordert
werden. Voraussetzung dafür ist, dass
es zu dieser Begegnung auch kommt;
wir sehen aber nicht zuletzt in unserer
Gesellschaft, dass sich eher die Vorur-
teilsgleichgesinnten sammeln und eine
erhöhte zusammengehörigkeitsver-
stärkende Binnenkommunikation ent-
wickeln, statt ihre kognitiven Schwer-
ter mit anderen, widersprechenden
Vorurteilsträgern zu kreuzen.
Man könnte also mit Gadamer argu-
mentieren, dass wir uns systematisch
die Grundlage für unser Denken ent-
ziehen. Natürlich ist es einfacher, sich
in seinem Vorurteil bestärken zu las-
sen, aber es schläfert unser Denken,
unsere intellektuelle Regheit ein. Sie
führt zu Borniertheit und Kleingeis-
tigkeit. Und zwar auf allen Seiten.
Wir leben in einer Zeit, wo die direkte
Konfrontation von widerstreitenden
Vorurteilen systematisch vermieden
wird.
Um eine Sportmetapher zu verwen-
den, die Anzahl der Personen im Ring
der Denker nimmt nicht zu, sie nimmt
eher ab.
Jede Pädagogin und jeder Pädagoge
übernimmt gleichzeitig mit dem
Hochschulzertifikat eine Verantwor-
tung. Wo, wenn nicht in der Schule
kann und muss diese intellektuelle
Auseinandersetzung gelernt und ein-
geübt werden? Wo, wenn nicht in der
Schule, muss der ununterdrückbare
Wille, diese Auseinandersetzung zu
wollen und zu suchen, gepflegt und
kultiviert werden? Und bei wem, wenn
nicht bei den Pädagoginnen und Päd-
agogen, sollen Kinder Vorbilder für ein
solches Handeln finden?
Es bleibt zu hoffen, dass sich irgend-
wann mehr Menschen im Ring der
Denker befinden als Zuschauer auf
den Rängen. Denn, und das wissen
auch weniger boxaffine Menschen, die
Scheinwerfer, sind immer nur auf den
Ring gerichtet.
Dr. Jan Böhm ist Hochschulprofessor
für Vergleichende Pädagogik und
Bildungssystementwicklung an
der Pädagogischen Hochschule
Oberösterreich.
Literatur
Schweitzer, Albert (2001): Pre-
digten 1898-1948. Werke aus
dem Nachlaß. München.
Wittgenstein, Ludwig (1963):
Tractatus logico-philosophicus:
Logisch-philosophische Abhand-
lung. Frankfurt/ Main.
Arendt, Hannah (2006): Denken
ohne Geländer: Texte und Briefe.
München.
Heidegger, Martin (2001):
Gesamtausgabe 2. Abt. Bd. 27:
Einleitung in die Philosophie.
Tübingen; dergl. (2006): Sein und
Zeit. Tübingen.
Gadamer, Hans-Georg (2010):
Gesammelte Werke: Band 1:
Hermeneutik I: Wahrheit und
Methode: Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik.
Tübingen.
Das Odessa-Projekt
Gemeinsam Kompetenzen erweitern
… also lautet ein Beschluss, dass der
Mensch was lernen muss…
(Wilhelm Busch)
Mit einer internationalen Konferenz
in Odessa zum Thema „Kompetenz-
basiertes Lernen – Fokus Sozialkom-
petenz“ endete am 20. November 2018
ein fünfjähriges Projekt zwischen der
Ukraine und Österreich, genauer zwi-
schen Kulturkontakt Austria und der
Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung
in Odessa. Zielgruppen waren vor
allem junge Lehrerinnen und Lehrer
an Pilotschulen der Region Odessa
und der methodischen Zentren in
diesem Gebiet. Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Fortbildungsinstituts
der PH OÖ versuchten die Möglich-
keiten und Erfahrungen im Bereich
des Kooperativen Lernens und der
Sozialkompetenz in die Ukraine zu
exportieren und dort Unterstützung
bei der Implementierung zu leisten.
Alles startete im Jahr 2014, als Max
Egger beim Besuch einer ukrainischen
Lehrer/innengruppe an der PH OÖ
den inhaltlichen Grundstein für die
intensive Zusammenarbeit legte. Kol-
leginnen und Kollegen aus Odessa
hatten ihren Bedarf nach Unterstüt-
zung bei der praktischen Implementie-
rung der Bildungsstandards und ihrer
Umsetzung im Unterricht angemeldet.
In der ersten Projektphase stand die
Entwicklung eines kompetenzorien-
tierten Mathematikunterrichts mit
kooperativen Lernformen im Mittel-
punkt. Dazu arbeitete Johann Roth-
böck in sieben zweitägigen Workshops
mit Mathematiklehrerinnen und -leh-
rern aus der Primar- und Sekundar-
stufe. Helga Schachinger und Susanne
Freynschlag ergänzten das oberöster-
reichische Team.
Ganina Martynjuk, Lehrerin in
Odessa, hat diesen Anspruch in ihrem
Unterricht so erlebt: „Während des
Kooperativen Lernens gibt es positive
wechselseitige Abhängigkeit. Schü-
lerinnen und Schüler sind sowohl für
ihre Leistungen als auch für die der
ganzen Gruppe verantwortlich. Das
Team baut auf Vertrauen und Zusam-
menhalt, Teammitglieder teilen sich
Verantwortung und Leadership; ler-
nen und erleben in der Praxis soziale
Kompetenzen.
Eine Analyse der Ergebnisse nach der
ersten Phase zeigte, dass es vor allem
einer Vertiefung in der Umsetzung
von offenem Lernen bedurfte, um
Lernsettings zu schaffen, die neben der
Vermittlung von Fachkompetenzen
auch soziales Lernen der Schülerinnen
und Schüler ermöglichen.
Als Folgeprojekt arbeiteten Renate
Leeb-Brandstetter, Ulrike Friedwag-
ner-Evers und Eva Unterweger zum
Thema „Sozialkompetenz stärken“ ab
dem Studienjahr 2016/17 mit Lehr-
personen und Fortbildnerinnen in
Odessa zu Fragen wie: Wie kann
Unterricht gestaltet werden, dass
gleichzeitig mit der Vermittlung und
Auseinandersetzung mit Fachinhalten
die Sozialkompetenz der Schülerinnen
und Schüler gefördert wird? Wie, mit
welchen Inhalten und in welchen Set-
tings kann dieses Thema in Lehrperso-
nenfortbildungen Einzug finden?
Die gegenseitige Abhängigkeit von
Sozialkompetenz und Kooperativem
Lernen waren Ausgangspunkt für die
Auseinandersetzung mit unterschiedli-
chen Themen. Kooperation, Kommu-
nikation, Selbstverantwortung, Lern-
und Arbeitsverhalten und der Umgang
mit Konflikten als Themen zur Förde-
rung der Sozialkompetenz bildeten die
Basis für die gemeinsame Arbeit an
sieben zweitägigen Workshops.
Neben der inhaltlichen Arbeit wur-
den Verbindungen zwischen den bei-
den Bildungssystemen und vor allem
zwischen den beteiligten Menschen
geknüpft und beiderseits wertvolle
Erfahrungen gewonnen.
Ulrike Friedwagner-Evers, MSc
und Johann Rothböck, MA sind
Mitarbeiterin/Mitarbeiter am Institut
für Fortbildung und Schulentwicklung I
an der Pädagogischen Hochschule
Oberösterreich.
Foto: Privat