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Ausgabe 05 | 2018 | 2. Jg.

Reflecting

wahrscheinlich deshalb so gern Tole-

ranz, weil sich darin unsere Überle-

genheit manifestiert, auch wenn das

wahrscheinlich niemand gern zugeben

würde.

Wahrscheinlich regt sich jetzt bei

Ihnen ein ungutes Gefühl, eine Span-

nung, resultierend aus einem Missbe-

hagen gegenüber dem Gehörten. Das

wäre das beste Beispiel für den zwei-

ten ausgewählten Begriff, an dem der

vor-reflexive Gebrauch dergleichen

demonstriert werden soll: dem des

Vorurteils.

Offensichtlich widerspricht mein Vor-

urteil von Toleranz und seinen Mecha-

nismen Ihrem Vorurteil von Toleranz

und seinen Mechanismen. Wir hät-

ten also genau den Punkt erreicht,

in dem Hans Georg Gadamer die

Quelle des Denkens lokalisiert, und

zwar dem Aufeinandertreffen zweier

sich widersprechender Vorurteile. Für

Gadamer sind Vorurteile nichts Nega-

tives, sondern etwas Selbstverständ-

liches. Ohne ein Set an Vorurteilen

wäre kein Leben in einer Gesellschaft

möglich. Vorurteile geben uns Orien-

tierung und entlasten uns von stän-

diger Abwägungsarbeit, die unser

Leben völlig verunmöglichen würde.

Aber natürlich, Vorurteile bleiben nur

solange stabil, bis sie herausgefordert

werden: durch Dysfunktionalität oder

durch andere, widersprechende Vor-

urteile. Unsere Vorurteile sind also

in Bewegung, sie sollen in Bewegung

gebracht werden. Sich-Bilden ist die

ständige Arbeit am eigenen Vorurteil.

Jedoch, und das ist jetzt deutlich, Vor-

urteile sollen und können nicht abge-

schafft werden: Hinter Vorurteilen

liegt kein sozialromantisches Utopia,

sondern nichts. Selbstverständlich ist,

dass es Vorurteile gibt, die Schaden

anrichten und unvereinbar sind mit

unserer demokratischen Grundord-

nung. Jedoch: Vorurteile verbieten ist

juristisch unmöglich, nur Handlungen,

die aus solchen Vorurteilen motiviert

sind, sind strafbar und machen solche

Vorurteile ja überhaupt erst sichtbar.

Bevor solche Vorurteile Schaden

anrichten können, sollten sie also ver-

ändert werden. Und das geschieht,

indem sie von anderen, widerspre-

chenden Vorurteilen herausgefordert

werden. Voraussetzung dafür ist, dass

es zu dieser Begegnung auch kommt;

wir sehen aber nicht zuletzt in unserer

Gesellschaft, dass sich eher die Vorur-

teilsgleichgesinnten sammeln und eine

erhöhte zusammengehörigkeitsver-

stärkende Binnenkommunikation ent-

wickeln, statt ihre kognitiven Schwer-

ter mit anderen, widersprechenden

Vorurteilsträgern zu kreuzen.

Man könnte also mit Gadamer argu-

mentieren, dass wir uns systematisch

die Grundlage für unser Denken ent-

ziehen. Natürlich ist es einfacher, sich

in seinem Vorurteil bestärken zu las-

sen, aber es schläfert unser Denken,

unsere intellektuelle Regheit ein. Sie

führt zu Borniertheit und Kleingeis-

tigkeit. Und zwar auf allen Seiten.

Wir leben in einer Zeit, wo die direkte

Konfrontation von widerstreitenden

Vorurteilen systematisch vermieden

wird.

Um eine Sportmetapher zu verwen-

den, die Anzahl der Personen im Ring

der Denker nimmt nicht zu, sie nimmt

eher ab.

Jede Pädagogin und jeder Pädagoge

übernimmt gleichzeitig mit dem

Hochschulzertifikat eine Verantwor-

tung. Wo, wenn nicht in der Schule

kann und muss diese intellektuelle

Auseinandersetzung gelernt und ein-

geübt werden? Wo, wenn nicht in der

Schule, muss der ununterdrückbare

Wille, diese Auseinandersetzung zu

wollen und zu suchen, gepflegt und

kultiviert werden? Und bei wem, wenn

nicht bei den Pädagoginnen und Päd-

agogen, sollen Kinder Vorbilder für ein

solches Handeln finden?

Es bleibt zu hoffen, dass sich irgend-

wann mehr Menschen im Ring der

Denker befinden als Zuschauer auf

den Rängen. Denn, und das wissen

auch weniger boxaffine Menschen, die

Scheinwerfer, sind immer nur auf den

Ring gerichtet.

Dr. Jan Böhm ist Hochschulprofessor

für Vergleichende Pädagogik und

Bildungssystementwicklung an

der Pädagogischen Hochschule

Oberösterreich.

Literatur

Schweitzer, Albert (2001): Pre-

digten 1898-1948. Werke aus

dem Nachlaß. München.

Wittgenstein, Ludwig (1963):

Tractatus logico-philosophicus:

Logisch-philosophische Abhand-

lung. Frankfurt/ Main.

Arendt, Hannah (2006): Denken

ohne Geländer: Texte und Briefe.

München.

Heidegger, Martin (2001):

Gesamtausgabe 2. Abt. Bd. 27:

Einleitung in die Philosophie.

Tübingen; dergl. (2006): Sein und

Zeit. Tübingen.

Gadamer, Hans-Georg (2010):

Gesammelte Werke: Band 1:

Hermeneutik I: Wahrheit und

Methode: Grundzüge einer

philosophischen Hermeneutik.

Tübingen.

Das Odessa-Projekt

Gemeinsam Kompetenzen erweitern

… also lautet ein Beschluss, dass der

Mensch was lernen muss…

(Wilhelm Busch)

Mit einer internationalen Konferenz

in Odessa zum Thema „Kompetenz-

basiertes Lernen – Fokus Sozialkom-

petenz“ endete am 20. November 2018

ein fünfjähriges Projekt zwischen der

Ukraine und Österreich, genauer zwi-

schen Kulturkontakt Austria und der

Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung

in Odessa. Zielgruppen waren vor

allem junge Lehrerinnen und Lehrer

an Pilotschulen der Region Odessa

und der methodischen Zentren in

diesem Gebiet. Mitarbeiterinnen und

Mitarbeiter des Fortbildungsinstituts

der PH OÖ versuchten die Möglich-

keiten und Erfahrungen im Bereich

des Kooperativen Lernens und der

Sozialkompetenz in die Ukraine zu

exportieren und dort Unterstützung

bei der Implementierung zu leisten.

Alles startete im Jahr 2014, als Max

Egger beim Besuch einer ukrainischen

Lehrer/innengruppe an der PH OÖ

den inhaltlichen Grundstein für die

intensive Zusammenarbeit legte. Kol-

leginnen und Kollegen aus Odessa

hatten ihren Bedarf nach Unterstüt-

zung bei der praktischen Implementie-

rung der Bildungsstandards und ihrer

Umsetzung im Unterricht angemeldet.

In der ersten Projektphase stand die

Entwicklung eines kompetenzorien-

tierten Mathematikunterrichts mit

kooperativen Lernformen im Mittel-

punkt. Dazu arbeitete Johann Roth-

böck in sieben zweitägigen Workshops

mit Mathematiklehrerinnen und -leh-

rern aus der Primar- und Sekundar-

stufe. Helga Schachinger und Susanne

Freynschlag ergänzten das oberöster-

reichische Team.

Ganina Martynjuk, Lehrerin in

Odessa, hat diesen Anspruch in ihrem

Unterricht so erlebt: „Während des

Kooperativen Lernens gibt es positive

wechselseitige Abhängigkeit. Schü-

lerinnen und Schüler sind sowohl für

ihre Leistungen als auch für die der

ganzen Gruppe verantwortlich. Das

Team baut auf Vertrauen und Zusam-

menhalt, Teammitglieder teilen sich

Verantwortung und Leadership; ler-

nen und erleben in der Praxis soziale

Kompetenzen.

Eine Analyse der Ergebnisse nach der

ersten Phase zeigte, dass es vor allem

einer Vertiefung in der Umsetzung

von offenem Lernen bedurfte, um

Lernsettings zu schaffen, die neben der

Vermittlung von Fachkompetenzen

auch soziales Lernen der Schülerinnen

und Schüler ermöglichen.

Als Folgeprojekt arbeiteten Renate

Leeb-Brandstetter, Ulrike Friedwag-

ner-Evers und Eva Unterweger zum

Thema „Sozialkompetenz stärken“ ab

dem Studienjahr 2016/17 mit Lehr-

personen und Fortbildnerinnen in

Odessa zu Fragen wie: Wie kann

Unterricht gestaltet werden, dass

gleichzeitig mit der Vermittlung und

Auseinandersetzung mit Fachinhalten

die Sozialkompetenz der Schülerinnen

und Schüler gefördert wird? Wie, mit

welchen Inhalten und in welchen Set-

tings kann dieses Thema in Lehrperso-

nenfortbildungen Einzug finden?

Die gegenseitige Abhängigkeit von

Sozialkompetenz und Kooperativem

Lernen waren Ausgangspunkt für die

Auseinandersetzung mit unterschiedli-

chen Themen. Kooperation, Kommu-

nikation, Selbstverantwortung, Lern-

und Arbeitsverhalten und der Umgang

mit Konflikten als Themen zur Förde-

rung der Sozialkompetenz bildeten die

Basis für die gemeinsame Arbeit an

sieben zweitägigen Workshops.

Neben der inhaltlichen Arbeit wur-

den Verbindungen zwischen den bei-

den Bildungssystemen und vor allem

zwischen den beteiligten Menschen

geknüpft und beiderseits wertvolle

Erfahrungen gewonnen.

Ulrike Friedwagner-Evers, MSc

und Johann Rothböck, MA sind

Mitarbeiterin/Mitarbeiter am Institut

für Fortbildung und Schulentwicklung I

an der Pädagogischen Hochschule

Oberösterreich.

Foto: Privat