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Ausgabe 05 | 2018 | 2. Jg.

Reflecting

Arbeit am eigenen Vorurteil

Rede an die Studierenden zum Studienabschluss

J

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Jan Böhm macht deutlich, dass Begriffe ständig hinterfragt werden müssen, um nicht nur die

damit bezeichneten Sachverhalte zu verstehen, sondern sie auch verändern zu können.

Das Abschlusszertifikat einer päda-

gogischen Hochschule ist die Mate-

rialisierung einer Berechtigung. Die

Berechtigung, in einer staatlich aner-

kannten Schule pädagogisch tätig zu

werden. Gleichzeitig steht sie symbo-

lisch für die Gewährleistung bestimm-

ter, genau bestimmter Kompetenzen.

Man könnte sagen: Die Trägerin, der

Träger des akademischen Titels ist

hinreichend gebildet, um den Schul-

dienst aufzunehmen, aber nicht ausrei-

chend gebildet.

Aber dieser Spalt zwischen hinrei-

chend und ausreichend gebildet zu sein

bleibt bestehen. Bei jedem pädago-

gisch Tätigen. Man könnte auch ver-

allgemeinern, bei jedem tätigen Men-

schen. Dieser Spalt ist natürlich bei

jeder Person unterschiedlich groß, in

der Regel verkleinert er sich im Laufe

des Lebens, aber nicht automatisch,

sondern nur durch Anstrengung. Den-

noch ist auch bei größter Anstrengung

die Schließung des Spalts unmöglich,

sie muss es sein. Aus diesem Spalt

speist sich nämlich Ehrfurcht. Ehr-

furcht vor dem Zögling, Ehrfurcht

vor der pädagogischen Arbeit, nicht

zuletzt Ehrfurcht vor dem Leben, wie

Albert Schweitzer es formuliert hat.

Gleichzeitig sorgt dieser immerklaf-

fende Spalt für eine innere Unruhe,

eine notwendige, eine produk-

tive Unruhe. Sie ist hier gedacht als

Gegensatz zur absoluten Sicherheit.

Eine Sicherheit, die aus der Einsicht

resultiert, dass alles, was Ihnen als

Pädagoginnen und Pädagogen passie-

ren kann, unter Rückgriff auf Ihre hier

erworbenen Kompetenzen eindeu-

tig gelöst werden kann. Diese über-

zeugte Sicherheit wäre nicht nur dys-

funktional, sie wäre antipädagogisch.

Sie würde Ihren Bildungsprozess als

abgeschlossen imaginieren und jedes

dynamischen Moments entbehren.

Sie würde zu Selbstzufriedenheit und

Dünkel führen.

Der klaffende Spalt verhindert genau

diese Selbstzufriedenheit und pro-

voziert unablässig Zweifel. Keinen

fatalistischen Zweifel, sondern einen

produktiven Zweifel, wie er in der

Bildungsarbeit konstitutiv ist, kons-

titutiv sein soll. Der Zweifel beginnt

schon bei den Begriffen. Begriffe, oder

Sprache allgemein, sind die einzig uns

zur Verfügung stehenden Möglich-

keiten der Welterschließung. Genau

das ist unsere Aufgabe, anderen zu

ermöglichen und zu helfen, sich die

Welt auf-zuschließen. Genauer müsste

man sagen: sich die Welt zu er-schlie-

ßen. Auch hier gilt: Das Ziel unserer

Bemühungen ist die Befähigung zur

Selbst-erschließung, zur hinreichen-

den Selbsterschließung, nicht zur aus-

reichenden Selbsterschließung. Das

wäre ein Selbstwiderspruch.

Begriffe strukturieren unsere Welt;

sie präfigurieren unsere Wahrneh-

mung, leiten unsere Kognition und

sind Grundlage unserer Entscheidun-

gen und somit unseres Handelns. Sie

machen Zusammenleben überhaupt

erst möglich. Aber unsere Begriffe sind

nicht neutral. Natürlich nicht, sie sind

in einem Deutungshorizont, einem

Deutungskosmos eingelagert, den wir

selten reflektieren und der uns nicht

selten gar nicht zugänglich ist, denn

er wäre ja wiederum nur mit dem glei-

chen Sprachwerkzeug erforschbar und

somit blind.

Man könnte überspitzt sagen: Begriffe

ermöglichen unser Denken und

beschränken es gleichermaßen. Einige

ziehen die Grenze zwischen Denkba-

rem und Nicht-Denkbarem im Sag-

barem, so wie ein berühmter Linzer

Schüler.

Begriffe geben unserem Denken ein

Geländer. Dieses ist am Anfang unse-

rer Denkarbeit auch nötig, es gewährt

Orientierung und Sicherheit; aber

ein Geländer gibt immer einen ganz

bestimmten, vor-gedachten, Weg vor.

Wirkliches, freies Denken ist daher,

um bei der Metapher zu bleiben und

Hannah Ahrendt zu zitieren, ein Den-

ken ohne Geländer.

Aber Begriffe sind überaus wichtig,

vielleicht immer dann, wenn sie nicht

reflektiert werden: Bildungsstandards,

Kompetenzorientierung, Selbsttätig-

keit, Freiheit, Demokratie, Evidenz,

Management, Mitbestimmung, Tole-

ranz, all diese affirmativen Begriffe

nutzen wir unzählige Male und sie

erzeugen in der Kommunikation mit

anderen ein Band der wohligen Über-

einstimmung. Gleichzeitig fühlt man

sich in schwesterlicher und brüderli-

cher Ablehnung gegenüber Begriffen

wie Autorität, Gehorsam, Unterord-

nung oder Vorurteile, besonders im

pädagogischen Feld. Aber vielleicht ist

das lautstarke Klimpern mit solchen

Begriffen kein Signal der Stärke und

Überlegenheit, sondern im Gegenteil

ein Signal für ein reflexives Defizit.

Es war vor allem der Philosoph Mar-

tin Heidegger, der sich schmerzlich

bewusst geworden war, dass den grund-

legenden menschlichen Daseinsbedin-

gungen mit der bestehenden, kontami-

nierten Sprache nicht näherzukommen

war. Er erfand neue Begriffe mit spe-

zifischen Bedeutungen, um sein phi-

losophisches Problem - was uns hier

nicht interessieren kann - zu erkunden.

Der Nachteil einer solchen Privatspra-

che ist, dass außer Eingeweihten kaum

jemand „Heideggerisch“ verstand und

somit seine Gedanken nur einem klei-

nen Kreis zugänglich waren und sind.

Soweit müssen wir aber nicht gehen,

um bestehende Begriffe auf ihre Sinn-

haftigkeit und ihre unausgesprochene,

aber wirkmächtige Bedeutung zu hin-

terfragen. Ich möchte das am Beispiel

zweier Begriffe exemplarisch aufzei-

gen. Ich wähle aus meiner Wortliste

je eins aus der positiv und eins aus der

negativ besetzten Gruppe.

Ich beginne mit dem Begriff der

Toleranz. Es ist ein alter Begriff, der,

zuletzt mit der Flüchtlingskrise, in

aller Munde ist. Er scheint der Zwei-

deutigkeit unverdächtig und verleiht

denen, die glauben sich tolerant zu ver-

halten, ein angenehmes Gefühl. Aber

was bedeutet es, tolerant zu sein? Wie

ist das Verhältnis beschaffen zwischen

denen, die Toleranz geben, und denen,

die Toleranz erfahren?

Verdeutlichen kann man sich das an

einem Beispiel: Man stelle sich vor,

die Burgenländer Kroaten oder die

Kärntner Slowenen würden beschlie-

ßen, dem Bundespräsidenten eine

Deklaration zukommen zu lassen, in

der sie mitteilen, dass sie von nun an

die österreichischen Österreicher tole-

rieren würden. Das klingt nicht nur

komisch, das wäre regelrecht absurd.

Hier deutet sich bereits etwas an: nicht

jeder, nicht jede Gruppe kann ande-

ren Personen oder Gruppen, Toleranz

angedeihen lassen.

Eine andere Perspektive: Man sagt:

„Ich toleriere diese religiöse Gruppe

oder diesen Verein“, beispielsweise.

Das gibt dem Toleranzgeber in der

Regel ein gutes Gefühl. Er weiß sich in

der Gewissheit, etwas Gutes getan zu

haben. Versuchen wir uns in den Tole-

rierten zu versetzen: Man antwortet

vielleicht Freunden, auf die Frage, wie

es sich in diesem Land lebt: „Ich werde

hier toleriert“. Vermutlich weckt das

nicht die gleichen positiven Gefühle

wie beim Toleranzgeber.

Eine letzte Perspektivänderung: Die

Frage nach der Freiheit. Der Toleranz-

geber hat die Freiheit zu entscheiden,

ob er Toleranz gewährt oder auch

nicht. Anders der Toleranznehmer: er

kann die Toleranz über sich ergehen

lassen, zurückweisen kann er sie nicht.

Er hat auch kein Recht, Toleranz ein-

zufordern. Der Toleranzgeber befindet

sich also im Besitz der aktiven und

passiven Freiheit, der Tolerierte besitzt

weder die eine noch die andere.

Deutlich geworden ist: zwischen dem-

jenigen, der Toleranz gewährt, und

demjenigen, der Toleranz empfängt,

herrscht kein egalitäres Verhältnis.

Toleranz setzt immer ein Machtge-

fälle voraus: Toleranz kann nur von

einer Person oder Institution vergeben

werden, die mehr Macht besitzt als

die Toleranznehmende Instanz, wobei

diese Machtüberlegenheit nicht zu

verwechseln ist mit Mengenüberle-

genheit. Die Mehrheit muss keines-

wegs mächtiger sein als eine Minder-

heit, aber oftmals ist es der Fall.

Toleranz ist also nichts anderes als eine

Überlegenheitsgeste. Freilich, eine in

der Regel gut gemeinte Geste. Aber

dennoch eine Überlegenheitsgeste

einer superioren Instanz gegenüber

einer inferioren Instanz. Wir geben

„Begriffe ermöglichen

unser Denken und

beschränken es

gleichermaßen.“

Foto: Privat